Aljoscha
»De revolutionibus orbium coelestium
Über die Umschwünge der himmlischen Kreise«
Utopien stehen für Wünsche und Träume, für tief greifende Veränderungen und für einen freien und unbegrenzten Geist. Sie versprechen das Betreten neuer Dimensionen, das Erreichen einer absoluten Gerechtigkeit und eines unendlichen Glücks. Am Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte Russland mit der Oktoberrevolution ihre utopischen Vorstellungen in die Realität umzusetzen. Die Künste – Literatur, Theater, bildende Kunst und Musik – spielten bei diesem gewaltigen Experiment eine wichtige Rolle und leiteten damit die einflussreiche Avantgarde ein.
Der aus der Ukraine stammende und seit 2001 in Düsseldorf lebende Künstler Aljoscha – ein »Visionär« und »Utopist« – beschäftigt sich mit der Definition zukünftiger Ästhetik. Das Herzstück seiner Kunst bilden die Theorien des Bioethischen Abolitionismus: Der Zweck zukünftiger menschlicher Existenz wird nicht mehr der Überlebenskampf, sondern das von dem uns innewohnenden Leid befreite, glückliche Leben sein und die daraus abgeleitete freie schöpferische Tätigkeit der Menschen wird zum Selbstzweck. Um seine Kunst im vielfältigen Universum zeitgenössischer Kunstproduktionen zu verorten, wählt Aljoscha den Begriff »Bioism«. Hiermit verweist er auf das organische Entstehen seiner Objekte und verankert seine ästhetische Vision in der zukünftigen Evolutionsentwicklung. Er betrachtet seine Objekte und Installationen als Lebewesen. Sie sind die Boten aus der fernen Zukunft und verkünden, dass die Menschheit vom unaufhörlichen Leid befreit und das unbeschränkte Glück für alle erreichbar sein wird. Aljoscha’s Kunst ist ein ästhetisches Manifest der allumfassenden Glückseligkeit, frei von jeglicher Notwendigkeit und jedem praktischen Zweck.
Für seine, speziell für die Konzertreihe »Sound der Utopie« der Düsseldorfer Tonhalle entwickelte Arbeit wählt Aljoscha den Titel: »De revolutionibus orbium coelestium. Über die Umschwünge der himmlischen Kreise«. Damit bezieht er sich auf das im Jahr 1543 veröffentlichte Traktat von Nikolaus Kopernikus. In seinem Schlüsselwerk beschrieb Kopernikus ein mathematisch-naturphilosophisches Modell, gemäß dem sich die Planeten einschließlich der Erde um die Sonne bewegen und die Erde sich um ihre eigene Achse dreht. Damit überbrachte er damals eine kühne Botschaft und bereitete den Weg für die wissenschaftliche Erfassung des Universums in der Zukunft.
Aljoscha platziert sein Objekt unter die Kuppel der heutigen Tonhalle, wo die Besucher ehemals in einem Planetarium den projizierten Sternhimmel beobachten konnten. Was macht seine Kunst aus, um nicht als eine bloße Dekoration wahrgenommen zu werden? In seinem künstlerischen Akt knüpft er an die Vergangenheit an und lässt die Zukunft sich in der Gegenwart manifestieren. Seine floral anmutende, transluzente Installation gleicht in ihrer Leichtigkeit und in ihrer Struktur einem musikalischen Werk. In seiner künstlerischen Arbeit versteht sich Aljoscha nicht als Interpret, sondern als ein Komponist, der neue, noch nicht existente Harmonien kreiert. In ihrer bizarren Form scheint seine Arbeit dem nächsten Evolutionsschritt entsprungen zu sein, sie birgt die Energie der Veränderung in sich. Fasziniert von den Utopien des vergangenen Jahrhunderts, überzeugt von den Kapazitäten des menschlichen Geistes und der Wissenschaft, schaut der Künstler in die zukünftige Entwicklung der Menschheit und entwirft neue Formen des Daseins. Die Entstehung seiner Objekte ist ein komplexer Prozess, der einem wissenschaftlichen Vorgang im Bereich der synthetischen Biologie nahe kommt. Aljoscha baut ein »organisches« System, welches in der Natur nicht vorkommt und verleiht diesem neue Eigenschaften – die eines Verkünders. Die fremdartige Schönheit des Kunstwerkes in Kombination mit der erklingenden Musik in der filigranen Architektur der Kuppel der Tonhalle offenbart die Prophezeiung des universellen Glück.
Hört es sich wie eine Utopie an? In 100 Jahren werden wir es überprüfen können.
Aljoscha
»A Notion of Cosmic Teleology«
Exhibiton in Sala Santa Rita, Rome
4. - 13. March, 2017
Aljoscha sees his objects and installations as living beings. They are messengers from the distant future and bring a prophecy: humanity will be freed from endless suffering and unlimited happiness will be accessible for all. Aljoscha’s art is free of any need and any practical purpose. It is a sign of the future, and marks the appearance of a new aesthetic. It is an aesthetic manifesto of future total happiness.
Human history shows more examples of suffering than of happiness. Human beings seem to have an inborn mechanism which continually produces suffering. We seem doomed to engage in endless production for its own sake, we strive for success and power, we have become slaves to the needs of society. The prospect of lasting happiness seems to be just an illusion.
But biologists are already developing genetic and energetic methods that could make permanent happiness available. The vision of a completely happy society opens up new perspectives. An individual liberated from suffering is free to act and create in the world. The need for a government to distribute power and money, and the need for a religion to overcome fear and set forth moral values will simply fall away. People’s right to happiness will finally be fulfilled, and society will continue to develop naturally.
The purpose of human life will no longer be the fight for survival. Instead, a happy life and creative activity will become an end in itself.
This briefly-outlined thesis is the central idea of bio-ethical abolitionism, a natural ethics which seeks to abolish human servitude. At the same time it is the heart of Aljoscha’s artistic work. In order to situate it in the present multifaceted world of contemporary art Aljoscha has coined the term »Bioism«. Under this banner he displays these organically-arisen forms and anchors his aesthetic vision in our future evolution.
The question: »What is the purpose of human existence and activity?« has been an issue for philosophers for centuries, and the question still remains. Teleology is occupied with the attempt to answer this question. Specifically designed for the Sala Santa Rita, this installation is entitled »A Notion of Cosmic Teleology«. It draws on Aristotle’s teleology, and poses questions about the purpose of visual Art itself.
Aristotle defined Art as an ideal imitation of nature, which expresses its essence in sensual perceptible form. Aristotle held that Beauty is immanent in Art, and that the first purpose of Art is to give pleasure and aesthetic delight. Moreover the visual experience of beauty has the power to educate the human soul. According to Aristotle, sensual confrontation with nature leads to knowledge of the Truth. As an analogue of this, a sensual confrontation with Art leads to a »purification of the affect«, which can heal human emotional wounds such as fear or sorrow. The content of the artistic form should induce this catharsis, and lead to the experience of bliss.
In the historic, originally sacred space of the Sala Santa Rita, Aljoscha has placed an artistic object that embodies his vision of the future. In his creative act he brings together the three dimensions of time – past, present and future. The emergence of his objects is a complex process that approaches a scientific procedure in the field of synthetic biology. He builds a quasi-organic system, which does not exist in nature and imbues it with a new quality – that of a prophet. The bizarre shapes of this translucent installation seem to spring from the next stage of evolution. Its strange beauty revealed in this architectural context aims to cause a cathartic experience. The prophecy of universal happiness is revealed, and radiant joy fills the soul. The light and graceful flower-like installation is hidden within the room, as if in the mother's womb. Due to the architectural limitation of the space the artist cannot grant his creation the freedom to keep growing. Coming out from within the church, it would continue to grow under the open sky and take further forms. In his artistic work Aljoscha assumes the role of the demiurge. He mimics the generative activity of nature with its creative richness and thus joins the central message of Aristotle to the purpose of the visual arts.
Joy and aesthetic pleasure play the central role in the perception of this installation. But not only senses and feelings are at play here. All sensations and emotions are received by the mind as naked experience, which is the core of perception, and yet this core in its essence remains free and unaffected by any purpose. The inherent purpose of Aljoscha’s work manifests in this pure presence of the harmony between the joyful message of his art and its perception by others: please enjoy it!
»...nach Glamour«
Eine künstlerische Analyse zur aktuellen Entwicklung der russischen Gesellschaft von Natalia Gershevskaya und Jewgenija Tschuikowa.
Ausstellungsort:
KIT-Kunst im Tunnel, der Ausstellungsraum der Kunsthalle Düsseldorf
Ausstellungsdauer: 26. August – 30. Oktober 2016
Ausstellungskonzept:
In den letzten 25 Jahren hat die russische Gesellschaft eine gewaltige Wende durchlebt. Am Anfang des 21. Jahrhunderts steigerte sich die Finanzkraft einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ins nahezu Unermessliche.
Da sich in der sozialistischen Vergangenheit weder Tradition noch Kultur im Umgang mit Kapital entwickeln konnten, manifestierte sich das schnell verdiente Geld in einem luxuriösen Lebensstil, der den neuen gesellschaftlichen Status zeigte. Das Diktat des demonstrativen Konsums und der entfesselten Eitelkeiten gipfelte in den grotesken Formen eines »Glamour«, der zum Vorbild und zur Projektionsfläche der Träume des Großteils der Bevölkerung wurde – und Traum blieb.
Diese einzigartige Zeit wurde zur Faszinationsquelle bildender Künstler: Spontaneität, Freiheit, Leidenschaft, groteske Formen der Realität prägten die Intensität der künstlerischen Bildsprache. Die Künstler, die dieses Phänomen reflektierten, entzauberten die aufgeladene Materialität des Glamour und integrierten sie in ihren außergewöhnlichen Werken.
In dieser Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs wurden jedoch das soziale Bewusstsein und die gesellschaftliche Verantwortung nicht aufgebaut. Das verhinderte wiederum den Aufbau einer Zivilgesellschaft, was zur einer gewaltigen Spaltung, Orientierungslosigkeit und Radikalisierung in der heutigen Gesellschaft führte.
Welche Rolle spielte bei dieser gesellschaftlichen Entwicklung das Phänomen des Glamour? Ist die schillernde Schönheit des Seins und die Stimmung einer unaufhörlichen Feier des Lebens eine gezielte Ausblendung der viel härteren Realität?
Die Ausstellung reflektiert die Ambivalenz dieser Entwicklung, die in den Kunstwerken mit Humor und einem tiefen Verständnis für Kunst, als eine kritische Sprache, gezeigt wird.
Die Ausstellung wird von einem inhaltsreichen Vermittlungsprogramm begleitet. Künstlergespräche, Podiumsdiskussionen, Vorträge und Performances werden sich dem Themenkreis der Folgen des »Glam-Kapitalismus« im internationalen Kontext widmen.
Wir als Kuratorinnen sehen die Chancen zu einer positiveren Entwicklung, sowohl in Russland selbst, als auch in den russisch-westlichen Beziehungen, in der Vielfalt unabhängiger, kultureller Projekte, die die Menschen berührende Themen offen und ohne Zensur behandeln. Dabei ist es wichtig, dass man nicht ausschließlich innerhalb des lokalrelevanten Themenkreises bleibt, sondern, so wie bei »…nach Glamour«, eine lebendige, kontroverse und gesellschaftsrelevante Gesprächsgrundlage schafft und dadurch Verbindungen herstellt. Darüber hinaus möchten wir der freien und unzensierten Kunst aus Russland hier im Westen noch an verschiedenen weiteren Plätzen Bühne bieten und sie fördern.
Rede Natalia Gershevskayas zur Ausstellungseröffnung:
Der Ausdruck einer »Stillen Wahrnehmung« steht für mich für den Moment der höheren Konzentration und Entspannung zugleich, in dem das wahrgenommene sich komprimiert, sich bildhaft aus dem Nichts manifestiert und zum Kunstwerk wird.
In unserem alltäglichen Leben, nehmen wir nur die von uns geschaffene Umgebung war, wir »sehen« nicht, wir suchen nur nach Bestätigung für das, was wir bereits kennen.
Eine künstlerische Arbeit ruft aber in unserem Bewusstsein eine tiefere Ebene wach und wir haben durch diesen achtsamen Zustand die Möglichkeit, uns einer neuen Perspektive oder einer »weiteren Wahrheit« zu öffnen.
Das, was uns umgibt – Natur, Architektur, Menschen und Gegenstände – werden durch die künstlerische Sichtweise und durch den schöpferischen Prozess in einer neuen Perspektive betrachtet. Wenn Objekte von der ihnen zugeschriebenen Funktion befreit werden, wandeln sie sich zu einer unbekannten Erscheinungsform und werden von Rezipienten fast nicht mehr erkannt. Dadurch verschwinden die in der menschlichen Wahrnehmung existierenden Grenzen. Die festen Regeln, die uns helfen die Welt zu beschreiben und zu sortieren werden in Frage gestellt. Aber die sichtbare Welt wird reicher, die Möglichkeiten die Welt zu beschreiben und wahrzunehmen vermehren sich.
Die ausgestellten Werke behandeln diese Themen auf sehr subtile und »stille« Art.
Der Rundgang beginnt mit dem Objekt »Selena« von Angelika J. Trojnarski. Die Künstlerin setzt sich in ihrer Kunst mit den Folgen und Begleiterscheinungen der modernen Technik und Industrie für den Menschen in der heutigen Zivilisation auseinander. In dieser Arbeit thematisiert Angelika Trojnarski die Nikola Teslas Forschung und Theorien zur kabellosen Übertragung von Energie und Information: das Objekt „Selene“ hat die Form eines Parabolspiegels, der unsichtbare Signale durch das Fenster im KIT sendet, empfängt und weiter leitet. So finden wir die malerischen Arbeiten von Angelika Trojnarski »Tesla«, »Der Flug«, »Der Kugelblitz« und »Die Spule« im großen Raum wieder. Eine weitere inhaltliche Verbindung bildet das Objekt »Luna«, das zur Zeit in der Neue Galerie Gladbeck, im Rahmen der persönlichen Ausstellung von Angelika Trojnarski zu sehen ist.
In der Videoprojektion »Birds at the Katzenwäsche« begleitet Friederike Haug mit ihrer Kamera Tänzer, die der von der Künstlerin entworfenen Choreografie folgen. Konzentriert, nach einem bestimmten Szenario, aber trotzdem individuell und frei bewegen sich die Tänzer, die nah, mit einem Fokus auf Gesichtsausdruck, aufgenommen sind. Der Diskurs der Improvisation ermöglicht die individuelle Raumerfahrung und die Beziehungen innerhalb der Gruppe von Tänzer.
Die Arbeit »Haus 6« von Ae Ran Kim ist eine Videodokumentation ihrer Performance, die Künstlerin während ihres Aufenthalts im Kunstverein ArToll in Bedburg-Hau ausgeführt hat. Am helllichten Tag filmte sie aus 12 geöffneten Fenstern aus die Sicht auf die Natur der Umgebung in vier verschiedenen Himmelsrichtungen. In der Nacht projizierte sie diese zusammengeschnittene Aufnahme auf nun eine Fläche eines geschlossenen Fensters, das sie gleichzeitig mit weißer Farbe bemalte.
In der Videoprojektion »Licht/Gegenstände« beobachtet Sabine Düsend wie verschiedene Eigenschaften der gefilmten Gegenstände hervortreten. Der durch die Drehung erzeugte Übergang von sehr hell und sehr dunkel, das Schwarz-Weiß und die teilweise starken Nahaufnahmen erzeugen vom Gegenstand abstrahierte Bilder. Das Ergebnis ist ein bewegtes Ornament, das durch Schnitt und Wechsel der Gegenstände unterbrochen wird.
Die Fotografien von Sabine Düsend zeigen den Dettwanger Altar von Tilmann Riemenschneider. Die Faszination von der mittelalterlichen Kunst, ihrer Stille und ihrer inneren Konzentration reflektiert die Künstlerin in ihren klaren Nahaufnahmen mit einem starken Interesse an Material und Details.
Henning Fehr und Philipp Rühr zeigen den Schwarzweißfilm „Die Desinfizierende Sonne“. Im Mittelpunkt stehen 116 zentralperspektivisch aufgenommene Geschäfte auf der Düsseldorfer Nordstraße. Die Künstler widmen sich der Wirkung der städtebaulichen Architektur dieser Straße auf den Menschen, der sich auf ihr und in den sie säumenden Ladenlokalen bewegt. Ihre Kritik zielt auf den Konflikt zwischen der Vorstellung von Architekten und dem alltäglichen Ablauf des ganz normalen Lebens.
Adam Harrison zeigt seine neue Arbeit »Cinema of Daily Existenz«, die ein Teil von seinem Projekt Studio for Propositional Cinema darstellt. Die Offsetplatte ist eine Vorlage, von der Plakate gedrückt worden sind, die im öffentlichen Düsseldorfer Raum ein Ereigniss ankündigten, das sich am 20.07.2013 zwischen 19 und 21 Uhr abspielte. Innerhalb von zwei Stunden wurden Video- und Fotoaufnahmen gemacht, die Adam zu einer narrativen Bildkomposition komponiert. Harrison macht Passanten auf etwas aufmerksam, er appelliert an einer Schärfung der menschlichen Sinne, an Konzentration zur gesteigerten Wahrnehmung ihrer Umgebung und am Bewusstsein eines jeden selbst.
Ruben Benjamin Smulzynski präsentiert drei Fotocollagen und eine komplex konzipierte Installation. Wir sehen zwei museale Vitrinen, deren Inhalt unsere Erwartung und Vorstellung bricht. In einer Vitrine befinden sich zwei iPads, die eine Performanz zeigen, bei der Ruben sich mit unterschiedlichen Farben bemalt. Das Theatralische und die Transformation seines Körpers zu einer Skulptur, seine Funktion als Medium und Experimentierfeld für Malerei werden durch die Präsentationsform in modernen Technik nah zu entmaterialisiert. In der zweiten Vitrine befindet sich das Ergebnis der Performanz – das T-Shirt, das zur einem Kunstobjekt geworden ist.
Gefühle, Phantasien, Wünsche, aber auch soziale Beziehungen eines Menschen stehen im Mittelpunkt der Rauminstallation »Konstantin« von Hanna Hummel. Zwei Vorhangschienen in Form von idealtypischen Wirbelsäulen sind Haltung und Gerüst für die Stoffdrucke, die ein sich wiederholendes Vogelmuster oder einen Farbverlauf zeigen. Die Gegenüberstellung von zwei Fotografien, die einen jungen Mann und eine Wirbelsäule zeigen, stellen subtil einen Diskurs von Haltung und Entfaltung eines Individuum dar. Die Installation wird mit einem flüchtigen Videobild, das ein mal in 30 Minuten gezeigt wird und nur 30 Sekunden dauert, ergänzt.
Das Künstlerpaar Aleksey und Anna Gan aus St. Petersburg präsentiert mit dem Projekt „Scenography“ 33 Graphiken, die Stationen eines Lebens durchspielen. 27 von ihnen repräsentieren Schemata von Umgebungen die den Menschen in dramatischen und sogar tragischen Zuständen portraitieren. „Mirrors“, eine Serie von sechs weiteren Arbeiten thematisieren den Neuanfang. Diese Spiegel – zuallererst plastische Reflexionen – sind ein Versuch einen mentalen Raum zur Klärung, Veränderung und Transformation zu schaffen. Dieser Raum wird plötzlich entdeckt, denn die Graphiken aus trockenem Öl verlocken zum Kontrollverlust und zur endlosen Phantasie. In dieser düsteren, schattigen Szenerie beginnt nach langer Betrachtung eine Navigation von Punkt zu Punkt und so spinnt sich ein Netz von unendlichen Wegen und Möglichkeiten, die Entscheidungen erfordern.
Mit dem Vier-Kanal-Video »Specherkarten« von Kevin Pawel Matweew wird Betrachter zur einer endlosen Reise geführt. Mit dem Wort „Speicherkarten“ meint der Künstler einerseits das tatsächliche Medium auf dem das Videomaterial gespeichert wird. Andererseits ist damit sein mentaler
Speicher, seine Erinnerungen und deren geografischen Bezüge gemeint. Die Abwesenheit von Tönen schärft das Gehör und erweckt eigene Tonkonstruktionen aus der Erinnerung. „Speicherkarten“ braucht Zeit um in einem erkenntnismäßigen Begriff zu münden, Zeit, denn der komplette Film geht über Stunden und ist daher für den Betrachter geradezu unerfassbar.
Ohne Titel
Silke Albrecht versteht Abstraktion nicht als eine Reduktion konkreter Formen des Sichtbaren. Ihre Bilder entstehen nicht als Folge des Abstrahierens, sondern als Resultat der Auflösung von gegenständlichen Grenzen. Aus der Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen und Techniken wählt sie bewusst und konsequent die der »Alten Meister« aus: Öl auf Leinwand. Überraschend mag die Wahl der tradierten Technik auch deshalb erscheinen, weil sie seit Oktober 2010 an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Andreas Gursky studiert. Silke Albrecht stellt sich dieser Herausforderung, in der Auseinandersetzung und in der Relation der Möglichkeiten der digitalen Bildcomposings, die weiter geltenden Eigenschaften und Möglichkeiten von Ölmalerei herauszuarbeiten.
Das Auflösen von gegenständlichen Grenzen spielte schon in früheren Arbeiten eine wichtige Rolle, als Albrecht an der Kunstakademie Münster (2006 – 2010) bei Michael van Ofen studierte. Nach fotografischen Vorlagen schuf sie architektonische Räume, verlieh den Bildern aber ein irritierendes Element. Aus der Mitte der Bilder, durch die architektonischen Strukturen hindurch, fließt das »Weiß«. Der Blick gleitet über die detailliert erarbeiteten Texturen und versucht zu erkennen, was sich hinter der klaren Struktur verbirgt. Als Farbe des Lichts, trug die weiße Farbe für Albrecht eine transzendente Bedeutung in sich. Weiß löst Gegenstände und Strukturen auf, führt den Blick über die Grenzen der sichtbaren Welt, um neue Formen und atmosphärische Räume entstehen zu lassen.
Die aktuell ausgestellten Bilder entstanden im ersten Jahr Albrechts an der Kunstakademie Düsseldorf und veranschaulichen die konsequente Entwicklung ihres künstlerischen Ansatzes. In ihrem malerischen Experiment der Auflösung geht sie jetzt noch einen Schritt weiter: sie verzichtet auf die fotografischen Vorlagen und widmet sich der abstrakten Malerei. Aus der gegenständlichen Welt bleibt nur noch ein Anhaltspunkt – die Form des menschlichen Kopfes. Dieser wird nicht als eine abgegrenzte Form dargestellt, sondern als eine Art Raum verstanden, den sie in ihrem malerischen Prozess bis zur vollkommenen Auflösung erweitert. Zunächst markiert Albrecht die äußersten Grenzen des Kopfes - die Ohren - skizziert dann ein Gerüst, das dem Bild einen kompositorischen Zusammenhalt gibt. Danach beginnt sie den Prozess des malerischen Auflösens, indem sie mit der weißen Farbe die selbst gesetzten Grenzen überschreitet und die geschaffene Struktur verwischt und damit auflöst. Im Wechselspiel mit den anderen Farben wird Weiß zu einem gleichwertigen Element. In den Arbeiten »Mo« (04), »König« (05), »Ohne Titel« (06) und »Ohne Titel« (07) gibt es keine figuralen Reste mehr. Die Künstlerin findet hier in einer freien und beweglichen malerischen Komposition ihre eigene Orientierung und Vertrautheit.
Das Bild »Kopf« (01) markiert in ihrem Schaffen einen Wendepunkt. Die innere Dynamik ist ruhiger geworden, die Komposition gesetzter. Das Zusammenspiel unterschiedlich großer Farbflächen und plastischer Strukturen, die durch den Pinselduktus entstehen, betonen die Flächigkeit des Bildes. Diese Tendenzen werden in den folgenden Bildern »Köpfe I« (02) und »Köpfe II« (03) verstärkt. Das nun wieder erkennbare Motiv des Kopfes wiederholt sich und wird zusammen mit den sich überkreuzenden Pinselstrichen in einen Rhythmus gebracht. Die Größe der Köpfe ist in eine gleichwertige räumliche Relation zu den abstrakten malerischen Elementen, wie Farbakzente und Pinselführung gestellt. Die Verdichtung und Ausdehnung von Farbfeldern, ihre Bewegung und ihr Innehalten schaffen im Rahmen, der in der Regel quadratisch gehaltenen Formate eine ununterbrochene Dynamik. Es scheint, als würde sich die malerische Komposition der Bildflächen über den Rahmen hinaus entwickeln. Silke Albrecht fügt immer wieder neue Elemente hinzu, um dem Bild einen noch komplexeren Charakter zu geben. Das fertige Bild kann so als ein Fragment verstanden werden, das jedoch in sich eine Einheit bildet.
Mit den beiden zuletzt entstandenen Bildern »Ohne Titel« (11) und »Ohne Titel« (14) stellt sich Silke Albrecht einer neuen Herausforderung. Sie fügt zwei gleich große quadratische Bildflächen zusammen. Zwischen diesen, die auch für sich alleine eine abgeschlossene Komposition darstellen, fügt sie ein verbindendes Element ein. Bei dem Bild »Ohne Titel« (11) ist es der rote Kreis, bei dem Bild »Ohne Titel« (14) ist es der rechteckige Abdruck der Luftpolsterfolie, der eine Referenz zum Alltäglichen bildet. Sie setzt zudem Kreide ein, um die unterschiedlichen Ebenen der Bildoberfläche zu markieren. Oft stellt Albrecht Bilder auf den Kopf, um die Stimmigkeit ihrer künstlerischen Entscheidung zu überprüfen. Ein Bild ist nur dann fertig, wenn alle Elemente und Zusammenhänge ihren einzig möglichen Platz gefunden haben. Mit diesen Arbeiten zeigt sich die Tendenz von Silke Albrecht, ein Bild als eine Einheit aus verschiedenen zusammengesetzten Elementen zu komponieren.
Die Bilder von Silke Albrecht entwickeln sich aus einem offenen Prozess heraus. Ihre bildnerische Sprache ist abstrakt, verliert aber nie den Bezug zur Realität, sei es die Form des menschlichen Kopfes oder der Abdruck einer technischen Folie. In der Beweglichkeit und der hohen Potentialität für Veränderung, in der Offenheit und in der wachsenden Komplexität ihrer Bildstrukturen, drückt sich die Aktualität von Silke Albrechts Kunst aus.
Katalog: download
Herausgeber: Best Gruppe Düsseldorf | www.bestgruppe.de
Ausstellungskonzept: Silke Albrecht, Natalia Gershevskaya
Organisation: Bernd Thiemann, Cora Heine
Gestaltung: SchwertnerStormDeFries GmbH, Köln | www.totalbranding.de
Texte: Prof. Dr. Siegfried Gohr, Natalia Gershevskaya
Druck: DruckVerlag Kettler | Bönen
Auflage: 400
Copyright: BEST GRUPPE, Silke Albrecht und Autoren
Kontakt zur Künstlerin: www.silke-albrecht.de
Die Düsseldorfer Kunstakademie.
Kunst im Wandel – Wandel durch Kunst.
Natalia Gershevskaya
Im Jahr 1961 wurde Joseph Beuys zum Professor für »Monumentale Bildhauerei« an die Kunstakademie Düsseldorf berufen. Die für ihre traditionellen Kunstvorstellungen bekannte Akademie wandelte sich zu einem Anziehungspunkt der jungen künstlerischen Avantgarde. Die charismatische Persönlichkeit von Joseph Beuys wurde zu einer Art Katalysator im Erkenntnis- und Realisierungssprozess der Ideen jener Zeit. Der bis dahin gültige Kunstbegriff wurde einer allseitigen Kritik und einer notwendigen Revision unterzogen. Die Kunst sprengte die gewohnten Grenzen von Museen, Akademien und Galerien. Sie wurde Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Beuys betonte, dass eine der grundlegenden Aufgaben der »neuen« Kunst darin bestehe, dass jedes einzelne Individuum eine schöpferische Kraft besitze und gleichzeitig damit die Möglichkeit, die umgebende Wirklichkeit zu verändern und neu zu schaffen, was als die Realisierung eines freien schöpferischen Prozesses gilt.
Während seiner Tätigkeit als Professor entwickelte er unkonventionelle Unterrichtsmethoden und lehnte die damals bestehende Hierarchiestruktur der Akademie ab. Er selbst beschrieb die Aufgabe eines Professors folgendermaßen: »Der Professor hat vielleicht keine andere Funktion als die des Fadens, den man in eine Zuckerlösung taucht, um Kandiszucker zu machen, indem sich daran etwas organisiert und kristallisiert. Der Professor ist nichts anderes als ein Student, es sollte kein Unterschied gemacht werden. Er sorgt nur für Kontinuität, da der Student unter Umständen heute kommt und morgen geht. Der Professor wäre also an der Akademie ein Kristallisationskern als Ordnungsprinzip«.
Eine der Hauptinitiativen der Beuys - Klasse waren die »Ringgespräche«, die seit dem Sommersemester 1966 in einem vierzehntägigen Rhythmus im Raum 20 stattfanden. Die Teilnahme an diesen Gesprächen gab den Studenten die Möglichkeit, für die von Beuys ausgehenden Impulse ein tieferes Verständnis zu entwickeln und diese bewusst in ihre eigene Kunst zu integrieren. Zusätzlich dienten diesen öffentlichen Gesprächsrunden als Anregung für die politische Aktivitäten der Studenten der Akademie. Beuys selbst, der sich während seiner Tätigkeit als Professor schöpferisch weiterentwickelte, verhalfen diese Ringgespräche zur Kristallisierung des für ihn zentralen Begriffs „Plastik und aus ihm folgend alle weiteren wie Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Akademie, Lehrer, Schüler, schließlich die Frage der Rolle des Staates, der Demokratie und der Politik – kurz: der von Joseph Beuys erweiterte Kunstbegriff“. Die Gespräche im Raum 20 brachten der Akademie eine Veränderung, die für die wachsende Künstlergeneration ein neues Verständnis für die Bedeutung der Kunst schuf und gleichzeitig für die Unzufriedenheit der konservativen Akademiemitglieder sorgte. Am 22. Juni 1967 gründete Joseph Beuys die »Deutsche Studentenpartei«, die ihre Aufgabe u.a. darin sah, die Autonomie der Düsseldorfer Kunstakademie zu erreichen.
Auf Einladung von Joseph Beuys fand 1969 die erste internationale Tagung der Lidl-Akademie statt, deren Initiatoren der Beuys-Schüler Jörg Immendorff und die Absolventin der Kunstakademie Chris Reinecke waren. Der von Immendorff geschaffene Begriff »Lidl« wurde zum Titel des Projekts, das von 1968 bis 1970 existierte. Die Lidl-Akademie stellte eine Alternative zur künstlerischen Hochschulbildung dar. Sie forderte die Abschaffung der Autoritätsstruktur an der Kunstakademie und eine erweiterte Selbstbestimmung der Studentenschaft. Die Professoren Joseph Beuys, Walter Warnach und Karl Wimmenauer boten ihre Klassenräume zur Durchführung der Lidl-Arbeitswoche vom 5. bis 10. Mai 1969 an. Am 7. Mai wurde es ihnen aber vom Rektorat untersagt, die Veranstaltungen weiter durchzuführen und alle Räume sollten unter Androhung von Polizeieinsätzen geräumt werden. Die Studenten reagierten mit einer Verlegung der Sitzungen auf den Platz vor der Akademie.
Am 10. Oktober 1972 besetzte Beuys zusammen mit den zum Studium nicht zugelassenen Studenten das Akademiesekretariat und forderte die Abschaffung einer Zulassungsbeschränkung für die künstlerischen Fächer. Am selben Tag verabschiedete der Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen Johannes Rau den Erlass der fristlosen Kündigung des Dienstvertrages mit Joseph Beuys. Nach zahlreichen Gerichtsverhandlungen wurde seine Entlassung im Jahr 1978 aufgehoben. Beuys lehrte weiter an der Akademie, jedoch nicht mehr als Professor.
Im selben Jahr berief Akademierektor Norbert Kricke den weltbekannten Komponisten, Musiker und Videokünstler Nam June Paik als Professor für Videokunst an die Düsseldorfer Akademie. Ein solcher Fachbereich stellte ein Novum in Europa dar, und in den siebzehn Jahren, in denen Paik als Professor tätig war, hat er mit seiner Toleranz und seiner Weltoffenheit zum hohen Ansehen der Düsseldorfer Kunstakademie als einer der renommiertesten Kunsthochschulen beigetragen, die eine starke Anziehungskraft auf Studenten vieler Länder ausübte. Paiks Klasse kennzeichnete eine beispiellose Atmosphäre eines offenen und freien Dialogs, der auch für seine Kunst charakteristisch war.
Jedes Jahr, zum Abschluss eines Wintersemesters, öffnet die Akademie ihre Atelierräume für die breite Öffentlichkeit. Die Tradition der Rundgänge, die von Norbert Kricke Ende der 1970er ins Leben gerufen worden ist, wird auch heute noch fortgesetzt. Während dieser Rundgänge erweitern sich die Flure und die Ateliers zu einem großen Ausstellungskörper, indem die schöpferische Energie und die Entstehungsprozesse der Jahresarbeiten greifbar werden. Die intensive Wahrnehmung der Künstler in ihren individuellen Atelierräumen und ihre kreativen Arbeitsabläufe wurden durch die Fotoserie von Erika Kiffl »Rundgänge 1979-1989« festgehalten. Die Künstlerin betont, dass ihr größter Impuls für die zehnjährige Arbeit an der Serie das Interesse an der Veränderung des ein und desselben Raumes im zeitlichen Ablauf war. Die Düsseldorfer Kunstakademie besteht seit über 230 Jahren und ihre räumliche Struktur hat sich kaum geändert. Der künstlerische Diskurs hingegen – beeinflusst von den Arbeiten der Studenten – spiegelt die Veränderungen der Zeit wieder.
Eng mit der Geschichte der Düsseldorfer Kunstakademie ist die Ausstellung »Saldo« verbunden. Sie fand 1997 im damaligen Kunstmuseum Düsseldorf statt und präsentierte etwa 120 Künstler der Bildhauerklasse von Professor Klaus Rinke. Für ihn war es wichtig, dass die Studierenden den engen Zusammenhang zwischen Kunst und realem Leben in ihren Arbeiten greifbar werden ließen. Die Grenzen des Genres Bildhauerei erweiterten sich, indem neue Materialien, Farben und Texte in die Strukturen der plastischen Werke einbezogen wurden. Eine der grundlegenden Ideen von Rinkes Klasse war die Fähigkeit, mit den Bildhauerplastiken den sie umgebenden Raum zu verändern und dadurch die Denkprozesse zu beeinflussen. Sein Meisterschüler Reinhard Mucha vertrat Deutschland bei der Biennale von Venedig im Jahr 1990. In den zwanzig Jahren ihres Bestehens (1974-2004) hat die Klasse von Klaus Rinke den Charakter der Akademie maßgeblich geprägt und den Wandel des gesellschaftlichen Diskurses fortgesetzt.
«Zur idealen Akademie». Gespräch von Friedrich W. Heubach in: interfunktionen, Heft 2, 1969, S 58
Johannes Stüttgen «Der Mensch hat den Elephanten gemacht» - Die Anfänge der Ringgespräche in der Düsseldorfer Kunstakademie, in: Joseph Beuys Symposium Kranenburg 1995. Hrsg. vom Förderverein «Museum Schloss Moyland e.V». Basel 1996, S.300